Gedanken zum Serbski Sejm - Festvortrag von Prof. Dr. habil. Klaus Thielmann
Übersetzung des Festvortrages
Die Geschichte der Völker kennt Höhen und Tiefen. 1000 Jahre lang hatten sich Sorben und Wenden gegen Gewalt zu wehren. Seit Ende des zweiten Weltkrieges schützen deutsche Regierungen ihr Lebensrecht und fördern die Pflege der sorbisch-wendischen Kultur in gegebener Weise. Dafür sind verschiedene Institutionen zuständig. Die Stiftung für das Sorbische Volk verfügt über mehr Mittel als jemals in der Vergangenheit für die Förderung der sorbisch-wendischen Kultur aufgewandt wurde.
Was aber ist und meint Kultur? Die sorbisch-wendische Literatur, Musik, Theater und weitere Genre, kurz sorbisch-wendische Kunst können sich sehen lassen. Noch bekannter und liebevoll gepflegt sind sorbisch-wendische Bräuche. Kultur aber findet nicht nur in Büchern, auf Bühnen, zu Ostern und in Institutionen statt, am wenigsten in Ämtern. Sie verwirklicht sich vor allem im täglichen Leben der realen Welt, wenig auffällig, doch maßgeblich für ein gutes Leben. Wichtige Elemente von Kultur sind Sprache, soziale Verbundenheit, Pflege von Lebensraum und Umwelt.
In diesen fundamentalen Kategorien von Kultur gibt es keinen Fortschritt im sorbisch-wendischen Land. Die Lage hat sich verschlechtert trotz der vielen Institutionen, Gremien und eines ansehnlichen Budgets der Stiftung (2016 € 19,4 Mio.). Der Gebrauch der sorbischen und der wendischen Sprache ist erschreckend zurückgegangen und damit sorbisch-wendisches Bewusstsein. Zum Bildungsgipfel am 14. Januar in Bautzen berichtete der sorbische Rundfunk über einen ‚dramatischen Rückgang des täglichen Gebrauchs der sorbischen Sprache‘. Der soziale Zusammenhalt ist schwächer geworden. Weite Flächen des historischen Siedlungsraums der Sorben und Wenden wurden der Braunkohle geopfert und weitere Dörfer werden abgebaggert.
Die bisherigen Bemühungen um die Erhaltung von Schlüsselelementen der sorbisch-wendischen Kultur sind ungenügend wirksam.
Institutionen und finanzielle Förderung konnten den Rückgang des Gebrauchs von sorbischer und wendischer Sprache, die Probleme der sorbisch-wendischen Schulbildung, den Verlust von sozialem Zusammenhalt, das Abbaggern wendischer Dörfer nicht verhindern. Auch das energische Vorgehen der Lausitzer Allianz gegen die Verwüstung historischen Siedlungsraums stieß an Grenzen. Sorben und Wenden, das Volk und seine Institutionen, viele ihrer Vertreter, Räte und Beiräte, Nieder- und Oberlausitz usw., auch mutige Proteste konnten existenzielle Rechte des sorbisch-wendischen Volkes nicht durchsetzen und die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten ausschöpfen, denn sie sprechen bisher nicht mit einer Stimme und handeln nicht in gleichem Sinn.
In einer demokratischen Ordnung gelten demokratische Grundsätze. Nur eine durch demokratische Wahlen sanktionierte Vertretung hat das Mandat, das sorbisch-wendische Volk zu vertreten. Sorben und Wenden sind in Europa nicht das einzige kleine Volk innerhalb größerer Völker. Samen, Schotten, Waliser, Katalonier, deutschsprachige Belgier zeigen, welches Potential in eigenen Parlamenten sogenannter Minderheiten für die Erhaltung und Entwicklung ihrer Kulturen steckt.
Wenn sich die Kandidaten für den Ältestenrat zu ihrer Berufung heute versammelt haben, heißt das, wir sind auf einem guten Weg zur Bildung einer demokratisch gewählten Vertretung mit dem politischen Mandat, für das sorbisch-wendische Volk zu sprechen. Der feierliche Rahmen ist zu Recht gewählt. In der uns bekannten Geschichte hatten die Sorben niemals einen Sejm, damit auch keinen Ältestenrat, der die Wahlen zum Sejm vorbereitet und diesen dann vielleicht auch weiter begleitet. Wir betreten Neuland.
Der Rat ist ein freies Gremium, unabhängig auch von der Initiative für den sorbisch-wendischen Sejm. Er hat freie Hand in grundsätzlichen Fragen der Wahlvorbereitung.
Das bedeutet auch Einfluss auf die Struktur des Sejm und erste Schritte seiner Tätigkeit. Ich stelle mir den Sejm nicht als eins der gewohnten Parlamente vor mit Fraktionen verschiedener einander bekämpfenden Parteien, jede mit eigenen politischen Ambitionen. Der Sejm wird eher ein Gremium von Fachleuten für inhaltliche Schlüsselaufgaben zum Wohl des sorbisch-wendischen Volkes sein. Darunter sind sicher solche Bereiche wie Recht, Bildung und Sprache, Infrastruktur und Verwaltung, Lebensraum und Umweltschutz, Landwirtschaft, Kommunikation und Medien, Lebensweise und Gesundheit usw. Ich meine, der Rat sollte gewisse, wenigstens vorläufige Vorstellungen von der Arbeitsweise des Sejm haben, die bei den Wahlen zu berücksichtigen sind. Das ist eine fesselnde Vorarbeit! Über seine endgültige Arbeitsweise wird der Sejm dann selbst entscheiden. Ob der Rat den Sejm noch weiter begleitet, wird die Zukunft zeigen. Ich glaube nicht, dass so bald auf die Expertise des Rates verzichtet werden sollte.
Erlauben Sie, kurz über einen Gedanken zu den Aufgaben des Sejm zu sprechen, der mir durch den Kopf geht, seit ich das Potential einer demokratisch gewählten sorbisch-wendischen Volksvertretung wirklich begriffen habe. Dazu nochmal die drei großen komplexen aktuellen Herausforderungen: (1) sorbische und wendische Sprache, (2) sozialer Zusammenhalt, (3) Schutz des Siedlungsraums. Alle drei werden sich im Arbeitsprogramm des Sejm sicher als vorrangig wiederfinden. Jede dieser Schlüsselaufgaben bedeutet Mühe zum Wohl des sorbisch-wendischen Volkes innerhalb des größeren deutschen und mit diesem gemeinsam. Neue Impulse für die Erhaltung und Festigung der sorbisch-wendischen Kultur werden umso erfolgreicher sein, je besser es geling, sie im deutschen Umfeld zu koordinieren. Sozialer Frieden und weitreichende Übereinstimmung mit der deutschen Bevölkerung der beiden Lausitzen muss Richtschnur aller Bemühungen sein.
Blicken wir vorwärts. Mit dem Potential des Sejm lässt sich die Bildung einer Modellregion Lausitz mit deutschlandweiter und internationaler Ausstrahlung anstoßen, konzentriert auf die drei genannten und vielleicht auf weitere Schwerpunkte.
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Offenheit und Verständigung zwischen Völkern und Kulturen. Die historischen Erfahrungen der Sorben und Wenden im Umgang mit zwei recht unterschiedlichen Kulturen sind heute sehr wertvoll. Dabei hat Zweisprachigkeit ihre Funktion in mehr als einer Hinsicht. Sie erweitert den kulturellen Horizont, für Sorben und Wenden ebenso wie für die deutsche Bevölkerung der Lausitz. Das allerdings setzt voraus, dass es gelingt, dafür Augen und Ohren zu öffnen. In multikulturellem Umfeld hängt der soziale Frieden weitgehend von der kulturellen Offenheit ab. Die entscheidet nicht selten selbst über Frieden oder Krieg. Wir sollten sorbisch-wendische Erfahrungen im Leben mit zwei Kulturen nicht unterschätzen und sie nutzen.
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Soziale Verbundenheit. Diese ist eine der grundsätzlichen Stärken der Sorben und Wenden. In schweren Zeiten standen sie immer zusammen. Anders hätten sie eine tausendjährige Bedrohung nicht als Volk überlebt. Nach dem zweiten Weltkrieg ließ diese Verbundenheit nach. Sie schien nicht mehr nötig. Jetzt aber wird sie wieder dringend gebraucht. Die Gesellschaft ist durch Individualisierung und Eigeninteresse als moralisch legitimierte Triebkraft von Marktwirtschaft von innen bedroht. Soziale Verbundenheit bleibt fest in der sorbisch-wendischen Gesellschaft verwurzelt. Wie sie sich wiederbeleben lässt, zeigen die Nebelschützer und manche anderen Gemeinden. Sie schaffen Modelle und demonstrieren, was möglich ist.
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Schutz des Siedlungsraums. An dieser Front kämpft bisher die Lausitzer Allianz. Das Thema wird fraglos auch ein vorrangiges des Sejm sein.
Einer „Modellregion Sorbisch-wendische Lausitz“ mit diesem Fokus ist Aufmerksamkeit gewiss, deutschlandweit und international. Alle drei Probleme der Region sind auch globale Probleme. Sorben und Wenden haben gute Voraussetzungen, mit ihrem Modell einen Beitrag zur Lösung, wenigstens Entspannung der Lage beizutragen.
Dabei streifen sie das Klischee eines Volkes ab, dem gelegentlich nur musealer Bedeutung beigemessen wird. Es ist wichtig, dass sich die Sorben und Wenden sichtbar und kreativ an der Lösung aktueller globaler Probleme beteiligen. So steht der Sejm für eine breitere Denkweise als oft mit dem Sorbischen und Wendischen assoziiert. Wähler sollten verstehen: Sorbisches und Wendisches ist nicht nur Folklore, sondern vor allem reiches Potential für zeitgemäße Perspektive. Einer jüngeren zweisprachigen Generation bietet eine Modellregion zweisprachige Lausitz weitreichende kreative Möglichkeiten, und die Älteren werden erkennen, dass traditionelle Werte unverändert gelten. Nur mit diesen allein aber hat das Sorbische-Wendische keine Zukunft in einer sich schnell verändernden Welt.
Der Sejm als Triebkraft einer bi-kulturellen Modellregion Lausitz ist ein außerordentliches Projekt mit Blick auf die Herausforderungen unserer Epoche und auch in Erinnerung und Würdigung der sorbischen und wendischen Patrioten des 19. und 20. Jahrhunderts. Für sie blieb Serbski Sejm und seine Möglichkeiten ein Traum. Wenn wir den Sejm jetzt mit dem Ältestenrat zum Wohl des sorbisch-wendischen Volkes und mit wechselseitiger Wertschätzung von Sorben, Wenden und Deutschen auf den Weg bringen dürfen, ist das ein Privileg und Ansporn. Mögen uns Weitblick und Klugheit leiten!